Seit Jahren beschäftige ich mich mit Störungen beim Spracherwerb und mit Störungen
beim Erwerb der Lese- und Rechtschreibfähigkeiten. Wir sind uns oft nicht
bewusst, welch grandiose Leistung Kinder in kurzer Zeit vollbringen, wenn sie
Lesen und Schreiben lernen. Allerdings ist diese hochkomplexe Leistung sehr
störanfällig auf verschiedenen Ebenen.
Was muss ein Kind leisten, um ein Wort korrekt zu
Papier zu bringen oder zu lesen?
Ein Kind
muss lernen,
1. dass
Schrift eine Codierung von mündlicher Sprache ist,
2. dass die
einzelnen Buchstaben nichts mit der Bedeutung eines Wortes zu tun haben (im
Gegensatz zur
Bilderschrift),
3. dass sich
der Lautstrom des Gesprochenen formal in immer kleinere Einheiten aufgliedern
lässt in Sätze, Wörter, Silben und Laute,
4. dass
jeder Laut mit einem Zeichen aus einem begrenzten Vorrat dargestellt werden
kann,
5. dass
diese Zeichen willkürlich festgelegt wurden, aber allgemein verbindlich sind,
6. dass
diese Zeichen in der richtigen Reihenfolge von links nach rechts geschrieben
werden müssen, ohne welche
auszulassen oder hinzuzufügen,
7. dass es
mehr Laute als Buchstaben gibt (manche Laute müssen sich ein Zeichen teilen, z.
B. die Vokale als
lange und kurze Laute),
8. dass es
für manche Laute aber auch mehrere Zeichen geben kann (z. B. v und f oder chs,
gs, ks und cks oder
kurzes e und kurzes ä),
9. dass
manche Laute aus mehreren Buchstaben bestehen (z. B. sch, ch, ng, nk),
10. dass
umgekehrt manche Buchstaben mehrere Laute repräsentieren (z. B. x und z),
11. dass
manche Laute nur schwer zu hören sind, aber dennoch geschrieben werden müssen
(z. B. Endungen –en
und –el),
12. dass
manche Laute gehört werden, aber nicht geschrieben werden müssen (z. B. a in
„ei“),
13. dass manche
Laute ähnlich klingen, aber unterschiedlich geschrieben werden (z. B. –er und
–a in Vater und
Sofa),
14. dass es
Regeln gibt, die das Schreiben von gar nicht hörbaren Buchstaben vorgeben (z.
B. Doppelvokal, Doppelkonsonant, ie, Dehnungs-h – h)
(Fortbildung
LGL-MV, 2005)
Faszinierend,
wie vielschichtig Schreiben lernen ist. Hätten Sie das gedacht? Was man nicht alles beachten muss -
vieles ist für uns selbstverständlich.
Lust auf ein Experiment?
Prima - schreiben Sie bitte das Wort "fäkslen".
Das Wort gibt es gar nicht - also wissen wir gar nicht, wie es richtig geschrieben wird.
Mögliche Varianten wären: väkslen, fekslen, fäxlen, faekslen, pfäkseln ....
Sie entdecken bestimmt noch mehr Schreibvarianten. Daran kann man sehen, wie schwer es ist, die richtige Rechtschreibung zu finden, wenn man die Schreibweise des Wortes nicht kennt. So geht es Kindern mit Legasthenie ständig.
Ich freue mich über Fragen, Ideen und Anregungen.